Die Familie Heilbronn

Die Inhalte:
  • Familie Bendix Heilbronn  (seit 1913)
  • Bericht von Erna Pinto, geb. Heilbronn
  • Bericht von Fritz Heilbronn
  • Bericht von Hella Weiss, geb. Heilbronn



    Die Familie Bendix Heilbronn

    von Gerhard Sels

    Die Heilbronns waren in Lengerich seit 1800 ansässig. Das Haus von Bendix Heilbronn stand in der Mühlenstraße, gegenüber der Bäckerei Biermann. - Der Vater, Philipp Heilbronn, hatte das Grundstück im Jahre 1913 erworben und ein Haus gebaut. Sein Sohn Bendix (1883) heiratete Ella Frank (1893) aus Werlte. Ihnen wurden vier Kinder geboren: Philipp (1921) - Erna (1922) Fritz (1925) und Günter (1930). Kurz nach der Geburt von Günter verstarb seine Mutter im Wochenbett.

    Danach heiratete Bendix Heilbronn Hanna Frank (1899) aus Sögel. Ihnen wurde eine Tochter Hella geboren (1934). - Günter wurde nach dem Tod seiner Mutter von einer Tante aus Cloppenburg adoptiert

    Die jüdischen Kinder besuchten die evangelische Volksschule. Ich war von 1955 bis 1969 Lehrer an dieser Schule und hatte von den Lengerichern gehört von gemeinsamer Freundschaft und Erlebnissen und den schmackhaften Mazzen, den sogenannten Osterbroten.

    "Bendix Heilbronn war ein guter Viehhändler. Er hat manch Armen eine Mark zugesteckt, was damals viel Geld war."

    Im folgenden gebe ich Berichte der Geschwister Erna, Fritz und Hella wieder. Aus den Berichten geht hervor, welche entsetzlichen Auswirkungen die nationalsozialistische Rassenideologie auch in Lengerich hatte.

    Quelle: s.u.
    Familie Bendix Heilbronn
    Ehepaar Bendix und Hanna mit Hella
    Geschwister Philipp - Erna - Fritz
    Aufnahme in Lengerich 1937/38.


    Quelle:
    s.u.




    Erna Pinto, geb. Heilbronn

    Ich wurde am 1. April 1929 in die evangelische einklassige Volksschule an der Frerener Straße eingeschult. Soviel ich weiß, mußten alle jüdischen Kinder in die evangelische Schule gehen, wenn keine jüdische Schule vorhanden war.

    Als meine Mutter gestorben war, nahmen mich meine Großeltern in Werlte auf. In Werlte besuchte ich nun drei Jahre die dortige Schule. Eine Tante in Cloppenburg adoptierte meinen kleinen Bruder Günter. Als mein Vater wieder geheiratet hatte, kehrte ich nach Hause zurück. Lehrer hier in Lengerich war Herr Bock. Weil ich eine gute Schülerin war, durfte ich am Französisch - Unterricht teilnehmen. Ich mußte dann von der evangelischen Schule in die Landwirtschaftsschule gehen, wo der Unterricht erteilt wurde.

    Weil ich durch den Weg einige Minuten zu spät kam, hatte der Unterricht schon begonnen. Die Lehrerin verlangte von mir, daß ich beim Betreten der Klassenzimmer "Heil Hitler" sagen mußte.

    Am 10. November 1938, der sogenannten Reichskristallnacht, war ich bei meinen Großeltern in Werlte. Es war am Vormittag, als die SA kam. Ich hörte wüste Schimpfworte, sie schrien nach Geld und demolierten die Wohnung. Ich hatte große Angst und ging nach oben um mein Geld zu holen, ich hatte 50,- Mark in meiner Handtasche. Das Vieh von meinem Onkel hatten sie von der Weide rausgetrieben und lief auf den Straßen umher. Bei meinen Verwandten, den Jakobs, befand sich die Synagoge, ein Gebetsraum, in der oberen Wohnung. Die SA stürmte auch diesen Raum und nahm die heiligen Thorarollen mit auf den Marktplatz, um sie zu verbrennen.

    Meine Tante und mein Onkel hatten sieben Söhne. Diese arbeiteten, wie mein Bruder Philipp auch, bei Rastedt im Tiefbau. Sie fuhren von Werlte aus mit dem Fahrrad morgens immer zur Arbeit. An diesem 10. November wurden sie in der Frühe aufgefangen. Man brachte sie in das KZ Oranienburg bei Berlin. Kurz vor Weihnachten kamen sie zurück, kahl geschoren und völlig entkräftet und voller Angst.

    Philipp ging im Januar 1938 nach Holland und verdingte sich bei einem Bauern. Als die Deutschen Holland besetzten, wechselte Philipp mehrmals die Stelle. Um den Bauern nicht zu gefährden bei einer Kontrolle, schlief er nachts in Erdlöchern, wie andere Flüchtlinge.

    Mein Vater war während der Pogromnacht vom 9./10. November bei seinen Schwiegereltern in Sögel. Als die SA auch hier ankam, versteckte die "arische" Haushälterin meinen Vater in einem Besenschrank. Eigentlich durften Nichtjuden nicht mehr bei Juden in Stellung gehen. Weil diese Haushälterin schon älter war, nahm man es wohl nicht so genau.

    Mein Vater fuhr während der Nacht zurück nach Lengerich. Er begab sich zu Dr. Sunder-Plaßmann ins Krankenhaus, der ihn am Bruch operierte. Vater trug schon längere Zeit ein Bruchband. So entging er auch der Verhaftung.

    Nach den Pogromen vom 10. November 1938 hatten wir große Angst. Vater beschloß nach Holland zu emigrieren. Wenn das Hitlerregime vorbei wäre, könnten wir wieder in unser Haus zurückkehren. Am 30. März 1939 fuhren Fritz, Hella und ich mit einem Kindertransport nach Rotterdam. Es waren Kinder aus ganz Deutschland, die im Zug saßen.

    Sechs Wochen später kamen meine Eltern nach. Die Holländer bauten für die vielen Flüchtlinge in Westerbork ein Barackenlager. Dort bezogen wir im März 1940 unseren zugeteilten Wohnraum.

    Als wir zur Feier am Gedenkstein nach Lengerich kamen, erinnerte ich mich an der deutsch-holländischen Grenze an den Kindertransport. Damals kamen die Zöllner in den Zug. Wir mußten unsere Papiere vorzeigen und ich hatte starkes Herzklopfen.

    Nach der Feier am Gedenkstein kam eine ältere Frau zu mir und sagte: "Ach Erna, als ihr von Lengerich weggegangen seid, da mußte mein Mann für euch die Kisten machen für den Umzug." - Ja, wir hatten alles verpackt in Kisten und der Transport sollte über Bremerhaven per Schiff gehen, aber es kam nichts bei uns an. - Vater hatte das Haus verkauft, doch Geld durfte er nicht mitnehmen.

    Ich arbeitete beim jüdischen Koch David, mein Bruder Fritz im Lagermagazin. Nun kamen auch die holländischen Juden ins Lager, als die deutschen Truppen am 10. Mai 1940 Holland besetzten. Es wurden laufend neue Baracken aufgestellt.

    Am 14. Juli 1942 ging der erste Transport mit 1.000 Menschen nach Osten ab. Nun kam jeden Montag ein Zug an und fuhr am Dienstag mit voll besetzten Wagen wieder weg. Eines Morgens mußten Fritz und ich auch antreten. Und dann hieß es entweder "Du gehst - du bleibst." - Und dann kam die Frage an uns. Mir zitterten die Knie. Ich wußte immer nicht, warum Menschen manchmal so zittern, wenn sie Angst haben. Aber nun wußte ich es. Ich sagte, daß ich in der Küche arbeite, was der Koch David bestätigen mußte und Fritz, daß er im Magazin beschäftigt sei. So konnten wir bleiben.

    Wohin die Transporte gingen, wußte man nicht. Jedenfalls in irgendein Arbeitslager im Osten. Von Westerbork sollen 100.000 Menschen "verfrachtet" worden sein.

    Am 18. Januar 1944 mußten meine Eltern und Hella sich auf der Abfahrtsrampe einfinden. Sie gingen auf Transport. Mein Bruder Fritz und ich wollten freiwillig mitfahren. Aber Vater gebot, daß wir bleiben sollten, um uns alle hier wiederzufinden, wenn der Krieg vorbei sei. Von Philipp hatten wir seit der Besetzung durch deutsche Soldaten nichts wieder gehört.

    Am 13. September 1944 ging der letzte Transport von Westerbork weg. Wir, die wir noch im Camp waren, sollten das Lager aufräumen und dann auch wegkommen und auf Transport gehen. Wir waren noch 700 Menschen. Ich glaube, daß auch viele aus Mischehen darunter waren. Die militärische Lage war wohl so, daß keine Transporte mehr gehen konnten. Was hatten wir für ein Glück.

    Am 12. April 1945 befreiten uns kanadische Soldaten. Am 6. Mai 1945 befreiten russische Soldaten Theresienstadt. In Theresienstadt waren Onkel Abraham und Tante Meta aus Lengerich umgekommen. Beide waren ja schon in Lengerich durch Lähmung erkrankte Menschen gewesen.

    Durch das Radio hörten wir Namen derer, die von Theresienstadt zurückkamen. Plötzlich hörten wir auch die Namen Johanna und Hella Heilbronn. Per Anhalter mit einem englischen Jeep machte ich mich auf den Weg nach Eindhoven, wohin die Transporte gingen. Unterwegs bei Deventer erblickte ich plötzlich meinen Bruder Philipp auf einem Fahrrad. Er hatte auf dem Gepäckträger einen Koffer. Vor lauter Aufregung kriegte ich kein einziges Wort raus, ich konnte nicht rufen und nicht schreien.

    In Eindhoven angekommen hörte ich schon, daß Mutter und Hella angekommen waren. "Die sind schon da", sagte man mir. Am 12. Juni 1945 konnten wir uns in die Arme fallen.

    Mein Bruder und Fritz stellten bald einen Antrag auf Ausreise nach Amerika. Ein Onkel in Amsterdam besorgte uns Plätze auf einem kleinen Frachtschiff. Am 10. November 1947 gingen wir in Antwerpen an Bord. Wir waren nur neun Passagiere und ich war die einzige Frau.

    Als ich die Einladung von der Gemeinde Lengerich erhielt für die Gedenkfeier am 30. August 1987, sagten viele meiner Bekannten: "Da wirst du doch nicht hinfahren wollen?" -Aber meine beiden Töchter sagten: "Mutter, du hast doch eine Einladung bekommen und es ist doch deine Heimat."

    So fuhr ich mit meiner Schwester Hella. Mein Bruder Fritz konnte wegen Erkrankung damals nicht mitfahren.

    Danach fuhr meine Tochter Beverly nach Lengerich und besuchte auch Weener und die Gräber der Verwandten. Beverly leitet eine große jüdische Schule in San Francisco, in der die Kinder im jüdischen Glauben unterrichtet werden an den Nachmittagen.

    Im Sommer 1997 war ich mit meiner anderen Tochter Ellen hier. Frau Dröge fuhr mit uns nach Sögel und Weener, wo wir Verwandte hatten. Herr Sels mit uns nach Weener, wo der Bürgermeister für uns einen Empfang bereitet hatte. Wir waren ganz überrascht davon. In Freren besuchten wir die Gräber unserer Angehörigen. Es ist schon schlimm, wenn man als Kind die Mutter verliert. Ich fragte mich leise "werde ich noch einmal hierher kommen?" -

    Im Lager Westerbork hatte ich einen jungen Mann kennengelernt. Erich Pinto traf ich nach der Emigration in San Francisco wieder. Wir waren im Briefwechsel verblieben. Erich hatte sich eine koschere Schlachterei aufgebaut. Wir heirateten im August 1949 und hatten eine sehr glückliche Ehe. Und hatten zwei Töchter bekommen, Ellen und Beverly. Dann einen Enkel Eric, genannt nach seinem Großvater Erich. Leider ist mein Mann schon 1979 verstorben.

    Einmal sind mein Mann und ich noch in Deutschland gewesen, um die Gräber unserer Angehörigen zu besuchen. Aber mein Mann weigerte sich jemals wieder ein Haus zu betreten. Zu groß war seine Verbitterung über das, was man uns Juden angetan hat.

    Ich sollte in Amerika mal aufschreiben, wer von unseren Familien alles umgekommen ist. Ich begann zu schreiben., - aber ich hörte auf. Ich konnte es nicht, es waren zu viele.

    Meine Tochter Ellen sagte hier in Lengerich: "Alle sind so nett und freundlich, es ist, wie wenn man in eine gute Familie kommt."


    Quelle: s.u.
    Ella Heilbronn, gest. 05.05.1930
    Quelle: s.u.
    Erna Pinto, Rabbiner Dr. Brandt,
    Hella Heilbronn - Lengerich 30.08.1987


    Quelle:
    s.u.




    Fritz Heilbronn

    Ich wurde geboren am 14. März 1925 in Lengerich, Mühlenstraße 29. Im Jahre 1930 wurde ich eingeschult in die einklassige evangelische Volksschule an der Frerener Straße, gelegen neben der Gastwirtschaft Habbert. Meine beiden älteren Geschwister waren 1927 (Philipp) und 1929 (Erna) eingeschult.

    Am 1. Juni 1937 wurden die evangelische und die katholische Schule zusammengelegt. Am Sabbat brauchte ich nicht zur Schule zu gehen. Zuletzt war es so. Die anderen Kinder durften nicht mehr mit mir in den Pausen spielen, ich stand dann für mich ganz allein auf dem Schulhof.

    In der Schule gab es eine monatliche Zeitschrift, die hieß "Hilf mit". Immer wenn darin etwas über die Juden vorkam, mußte ich es vorlesen, und das war immer etwas Bösartiges. Seit 12. November 1938 war es jüdischen Kindern nicht mehr erlaubt eine deutsche Schule zu besuchen. Ich war darüber sehr froh.

    In der evangelischen Schule war unser Lehrer Herr Bock, jetzt war es Herr Bruns. Es war am 10. November 1938, ich war 13 Jahre alt. Hans Brinker, der mit mir in der Klasse war, mußte vormittags immer die Post holen. Als er zurückkam, flüsterte er mir zu, daß etwas im Dorf passiert war, SA-Leute seien da gewesen.

    Als ich zu Hause ankam, sah ich schon was da so geschehen war von zerschlagenen Scheiben und herumliegenden Sachen. Ich fragte meine Mutter: "Was ist geschehen?" Meine Mutter sagte nur: "Die SA war hier."

    Am nächsten Tag kam die Tochter von Böhming, die kam mit dem Fahrrad. In der Zeit, wo sonst ja keiner mehr zu uns kam. Sie kam ins Haus und sagte, daß der Vater sie geschickt habe, ob wir Geld nötig hätten. Meine Mutter sagte, daß es doch nicht nötig sei. Hella war damals vier Jahre alt, sie hatte eine Schürze um mit einer Schürzentasche. Ich sah, wie die Tochter von Böhming Hella etwas in die Schürzentasche steckte und wegging. Hella sagte: "Mama, die Tante hat mir eine Tüte in die Schürze getan. Es war Geld, ich weiß aber nicht wieviel."

    Als meine Frau und meine beiden Kinder im September 1996 noch einmal nach Lengerich kamen, fuhr Herr Dröge mit mir nach Drope, wo Böhming wohnte. Ich unterhielt mich lange mit den jetzigen Bewohnern des Hauses.

    Nach der Pogromnacht vom 9./10. November 1938 wagte keiner bei Tage zu uns zu kommen. Wenn einer kam, dann in der Dunkelheit. Seit 1936 durften Juden keinen Viehhandel mehr betreiben. Der katholische Pastor Schockmann, der bis 1937 in Lengerich war, besuchte uns des öfteren und sagte: "Der braune Spuk geht auch einmal vorbei." Er machte meinen Eltern Hoffnung, so daß mein Vater meinte, daß es genügen würde nach Holland zu emigrieren und nicht nach Amerika. Leute erzählten uns daß Pastor Schockmann von der Kanzel gepredigt habe, "er sei nicht wie der Wetterhahn und lasse sich nicht verbiegen". Gemeint war natürlich von den Nazis. Ich weiß nicht, ob er deshalb von Lengerich fort mußte.

    Mein Bruder Philipp emigrierte als erster nach Holland. Er hatte vor nach Israel auszuwandern. Er arbeitete bei verschiedenen Bauern und besuchte uns öfter, als die deutschen Soldaten Holland noch nicht besetzt hatten. Nach der Besetzung brach die Verbindung zu Philipp ab. Nach dem Kriegsende am 8. Mai 1945 fanden wir uns wieder. Philipp sagte, daß er dem Bauern zugesagt habe im Sommer noch die Ernte einzubringen. Ich sagte, daß ich ihn beim Bauern besuchen werde. Er sagte: "Aber Du wirst nicht mit uns essen können, denn wir essen ganz primitiv alle aus einer Schüssel und aus einer Bratpfanne." - Ich sagte: "Philipp, wenn Du das kannst, dann kann ich es auch."

    Der Lagerkommandant von Westerbork war ein Obersturmführer. Seit Oktober 1942 war Obersturmführer Gemmeker Lagerkommandant in Westerbork. Er verhielt sich gegenüber den Gefangenen korrekt. Im Durchgangslager sollte keine Unruhe entstehen bei dem Abgang der wöchentlichen Transporte. Es gab ein Lagerorchester von den Insassen, ein Theater und Bunte Abende. Sogar ein Kaffeehaus mit Kaffee-Ersatz. Und wir hatten auch Fußballmannschaften. Außerhalb des Lagers wurde auch bei den Erntearbeiten geholfen und wer krank war, kam in eine Krankenbaracke.

    Als 1940 die deutschen Truppen einfielen, begannen auch in Holland die Verfolgung der Juden. In den Jahren 1942 bis 1944 wurde der größte Teil der in Holland verbleibenden Juden über Westerbork in die Konzentrations- und Vernichtungslager im Osten eingebracht. Nur wenige kamen zurück.

    Ich muß noch sagen, daß der Rabbiner von Leeuwarden bei dem Einzug der Deutschen in Holland einen Zug organisierte, um uns Kinder nach England bringen zu können. Mit einem Schiff von Hook van Holland sollten wir übersetzen. Da eine Brücke zerstört war bei Zwolle konnten wir den Hafen nicht erreichen und mußten zurück nach Westerbork.

    Nach der Befreiung waren meine Schwester Erna und ich die ersten von unserer Familie die auswanderten. Ein Onkel von uns gab die Bürgschaft. Ich ging zu ihm in den Viehhandel. In dem Ort, wo er wohnte, sprach man damals nur plattdeutsch. Es waren wenige, die kein plattdeutsch konnten. Im Nachbarort wurde noch "deutsch" gelernt in der Schule. Dort hat man alle Jahre auch ein Fest gefeiert, wie hier "Kirmes". Das nannte man "Sauerkraut-day". Da kamen über 20.000 Menschen zusammen, die aßen Sauerkraut und Würstchen. Das war alles gestiftet.

    Auf der Hochzeit von meiner Schwester Erna lernte ich meine zukünftige Frau kennen. Sie war auch aus Deutschland emigriert. Wir haben zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter.

    Zu der Feier am Gedenkstein im August 1987 konnte ich nicht kommen, ich hatte gerade eine Operation gehabt. Ich kam 5 Jahre später mit meiner Frau Evelyn.

    Mein Vater wurde allgemein Juden-Bendix genannt. Das war so und es war nicht abwertend gemeint. Er handelte mit Vieh und spielte gerne Karten. Als ich Bürgermeister Duisen hier besuchte, erzählte ich ihm, daß Vater mit seinem Großvater bei Robbe immer Doppelkopf spielte in der Wirtschaft. Seine Mutter wußte es noch.

    Zur Kirmes und zum Schützenfest hatten die Leute immer Fleisch bestellt und dann wurde bei uns geschlachtet. Wenn Paschest war bei uns Juden, dann bestellte Mutter in der Mazzenbäckerei in Burg-Steinfurt unsere Mazzen. Das war eine Spezialität und mußte koscher gebacken werden. Einen Stapel davon schickte meine Mutter immer zu den Nonnen ins Krankenhaus. Unser Haus in der Mühlenstraße stand gegenüber der Bäckerei Biermann. Als ich beim letzten Male hier war, ging ich mit Herrn Biermann über unser früheres Grundstück. Mir kamen doch bei dem Umgang viele Erinnerungen hoch und auch einige Tränen.

    Als wir von Lengerich fortgingen, brachte mein Vater einen Koffer zu Herrn Brockhaus in die Gastwirtschaft vor Lingen in Brockhausen. Wenn er das Vieh nach Lingen trieb oder es von Lingen holte, übernachtete er immer in der Gastwirtschaft. Das Vieh wurde da dann auch untergestellt. Nach dem Kriege brachte Herr Brockhaus den Koffer zu uns nach Holland. Man kann nur sagen, das war hochanständig.

    Der Viehhandel von Ostfriesland und vom Emsland versorgte die großen Wohngebiete von Berlin und vom Ruhrgebiet mit Fleisch. Im Viehhandel gab es viele jüdische Ausdrücke damals, die auch von den nichtjüdischen Händlern gebraucht wurden.

    Meine beiden Onkel hier in Lengerich, Abraham und Josef Heilbronn, wie auch mein Onkel Wilhelm in Lingen, waren ebenfalls Viehhändler. Mein Vater und auch meine Onkel waren im 1. Weltkrieg Soldat.

    Bei meinen Aufenthalten hier in Lengerich besuchte ich den jüdischen Friedhof in Freren. Dort ist meine Mutter Ella Heilbronn beerdigt und auch meine Großmutter Rieke Heilbronn, sowie meine Tante Johanna Heilbronn. Ich habe gehört, daß der Friedhof von Herrn Kuhrts und seinen Schulkindern in Ordnung gehalten wird. Dafür bin ich dankbar. Der jüdische Friedhof wurde von Artur Schwarz aus Freren 1926 gestiftet, Vorher wurden unsere Vorfahren auf dem Judenfriedhof in Lingen beerdigt.

    Ich sagte zu Herrn Sels: "Wenn ich gewußt hätte, wie freundlich wir hier aufgenommen würden, wären wir doch schon etwas eher gekommen."

    Seither stehen wir im Briefwechsel mit Lengerich und hören Neuigkeiten aus dem Gemeindeleben. Man hängt doch an der Heimat, trotz allem, was geschehen ist.

    In Westerbork ist das Todesdatum von meinem Vater., Bendix Heilbronn, verzeichnet. Er wurde ermordet in der Gaskammer von Auschwitz am 18. Oktober 1944, im Alter von 61 Jahren.


    Quelle: s.u.
    Ein Kranz wurde vom Lingener Arbeitskreis Judentum-Christentum
    und Kulturkreis Impulse Freren in Westerbork niedergelegt.


    Wir gedenken der jüdischen Kinder, Frauen und Männer aus Lengerich Lingen und Freren. Ihre letzte Reise führte von Westerbork in die Vernichtungslager von Auschwitz und Sobibor. - Auf dem Appellplatz stehen 102.000 kleine Steine (Bild) als Erinnerung an alle Deportierten, die nicht zurückkamen. 215 Steine mit einer Flamme darauf für die Ermordeten Sinti und Roma.


    Quelle:
    s.u.




    Hella Weiss, geb. Heilbronn

    Ich wurde am 22. Oktober 1934 in Lengerich geboren. An meine Kindheit habe ich wenige Erinnerungen. Aber ich weiß, daß ich oft zu Biermanns über die Straße gelaufen bin. Ich erinnere mich an den Kindertransport im Januar 1938 mit meinen Geschwistern Erna und Fritz. Ich hatte eine Puppe im Arm und weinte, weil ich meine Eltern verlassen mußte. Im Flüchtlingslager Westerbork bin ich zur Schule gegangen, auch noch als die Deutschen da waren.

    An den 18. Januar 1944 erinnere ich mich gut, ich war neun Jahre alt. Morgens erhielten wir Nachricht, daß wir abends auf Transport gehen mußten, meine Eltern und ich. Mutter packte die Koffer und nahmen Abschied von Erna und Fritz. Meine Eltern waren ganz aufgeregt.

    Der Zug fuhr nach Theresienstadt, das lag im Sudetenland. Nach zwei Tagen kamen wir an und wurden in einer ehemaligen Kaserne untergebracht. Theresienstadt war ein Vorzeigelager der Nazis. Ich weiß, daß einmal das "Rote Kreuz" aus der Schweiz kam und alles besichtigte. Im Lager gab es eine Lagerkapelle mit berühmten jüdischen Musikern und auch ein Theater.

    Vater mußte Straßenarbeiten verrichten und Toiletten säubern. Meine Mutter arbeitete außerhalb des Lagers in einer Fabrik.

    Am 16. Oktober passierte es, das werde ich in meinem Leben nicht vergessen, Man holte mich und meinen Vater ab zum bereitstehenden Zug. Wir kriegten einen Waggon zugewiesen. Ich setzte mich an den Eingang vom Waggon und hoffte auf meine Mutter. Als meine Mutter abends von der Arbeit kam, sagte man ihr: "Dein Mann und deine Tochter sind auf Transport." Meine Mutter eilte sofort zum Zug und lief von Waggon zu Waggon. Weil ich an einem Eingang vom Waggon saß, konnte sie mich bald finden. Sie nahm mich auf den Arm, als ein SS-Mann auftauchte und ihr befahl sofort umzukehren. Meine Mutter sagte: "Ohne meine Tochter gehe ich nicht." - Der SS-Mann drohte und sagte: "Du mußt deine Arbeit tun, bis du auch auf Transport gehst." Mutter sagte: "Dann will ich jetzt mitfahren."

    Es war noch ein junger SS-Mann und er sagte zu meiner Mutter: "Du bist eine gute Frau, ich bin kein Nazi, aber meine Eltern sind es." Er sagte es leise und schaute sich um, ob noch ein anderer SS-Mann in der Nähe war. Es war schon schummerig geworden und gleich hinter dem Bahnsteig war ein Schuppen. Und er flüsterte: "Geh schnell mit deiner Tochter in den Schuppen und warte. Ich verstecke deine Tochter bei meiner Freundin."

    Mutter hatte kaum Zeit von Vater Abschied zu nehmen. - Als der Zug abgefahren war kam der Soldat und brachte mich zu seiner Freundin. Fast jeden Tag kam er zu meiner Mutter und sagte, wie es mir ginge.

    Zwei Tage nach Abfahrt des Zuges starb mein Vater in der Gaskammer von Auschwitz am 18. Oktober 1944.

    Am 6. Mai 1945 wurden wir von den Russen befreit. Der junge Soldat und meine Mutter hatten mein Leben gerettet.

    Wir fuhren nach Kriegsende zurück nach Holland und trafen Philipp, Erna und Fritz wieder. Man kann sich denken, wie groß die Freude war. Aber auch wie traurig, daß unser guter Vater nicht mehr lebte. Wir, die wir überlebt hatten, haben viel Glück gehabt.

    Meine Mutter und ich waren 1951 und 1953 nochmals in Sögel, wo meine Mutter geboren ist, und in Lengerich. Dann wanderten wir nach Amerika aus. Meine Cousins Julius und Meinhard waren schon 1937 emigriert. Julius holte uns in New York vom Schiff ab und wir fuhren dann nach San Francisco weiter, wo meine Schwester Erna schon wohnte. Mutter lernte nicht mehr so richtig die englische Sprache und deshalb sprachen wir immer deutsch mit ihr. Wir sangen die alten deutschen Volkslieder, die auch ihre Enkelkinder dadurch lernten. Inzwischen habe ich drei erwachsene Töchter und Enkelkinder. Zur Feier am Gedenkstein am 30. August 1987 war ich dann noch einmal in Lengerich. Leider hat mein Bruder Philipp dieses nicht mehr erleben können. Er starb an einem Krebsleiden 1981 und hatte einen schweren Tod. Philipp wurde nur 61 Jahre alt, wie mein Vater. Meine Schwester Erna und ich waren noch ein paar Tage nach der Feier in Lengerich. Wir hatten uns gefragt, ob wohl zu der Feier viele Menschen kommen würden, - und es kamen so viele.

    Wir haben Herrn Sels alles erzählen können, und das hat uns gut getan.

    Quelle: s.u.
    Mutter Hanna mit Hella
    Lengerich 1937



    Quelle: s.u.
    Fritz, Erna, Hella,
    Philipp in Westerbork

    Quelle: s.u.
    Hella in Westerbork

    Quelle:
    Lengericher Geschichte(n), Nr. 5, Heimatverein für das alte Kirchspiel Lengerich e.V., Lengerich 1999, S. 5-13

  • Quelle: www.heimatarchiv.de zurück