Auf den folgenden Seiten finden Sie die Wiedergabe eines Gesprächs, daß die Herren Lothar Kurths aus Freren und Gerhard Sels aus Lengerich mit Frau Bertha Sachs, geb. Heilbronn am 2. Januar 1986 geführt haben. Das Manuskript wurde freundlicher Weise von Herrn Sels zur Verfügung gestellt.

Bericht von Frau Bertha Sachs,
geb. Heilbronn aus Lengerich

Sels: Frau Sachs, Sie sind geboren am 13. Dezember 1909 in Lengerich, gingen zur Schule in der einklassigen evgl. Volksschule und hatten, wie Sie mal sagten, eine glückliche Kindheit. Ich war 1955 bis 1969 Lehrer an dieser Schule, bis die evgl. und kath. Schulen zusammengelegt wurden. Gingen Sie gern zur Schule?

Sachs: Ich ging sehr gern zur Schule. Und sogar am Samstag, was unsere Religion uns eigentlich verbietet. Das kam so: Mein Lehrer fragte mich, ob ich an dem einen Samstag wohl kommen könne, weil der Schulrat dann käme. Ich war nämlich eine gute Schülerin und mußte oft mit den Kleinen das Lesen üben. So fragte ich meinen Vater und der Sagte, daß ich aber nicht den Griffel in die Hand nehmen dürfe, also nichts Handliches machte. Fortan ging ich nun jeden Samstag zur Schule und meine Brüder mußten nun auch gehen. Die haben das ja gehaßt und ich war nun die Schrullige, die das angefangen hatte.

Ich habe also die ABC-Schützen unterrichtet und auch mit den größeren Kindern in der Mittelstufe Diktat geübt. Das habe ich sehr gerne gemacht und war, das darf ich wohl sagen, der Liebling meines Lehrers. Bei der Schulentlassung wurde ich von ihm umarmt und gedrückt und er sagte: "Bertha, ich seh dich ungern scheiden."

Ich hatte liebe Freundinnen, die Töchter von Pastor Meier, die jüngste war in meinem Alter. Die älteste war Käthe, dann kam Herta, dann Elisabeth. Da waren noch Frieda Hoffmann und Mathilde Kromminga, die Tochter von unserem Briefträger. Da gab es überhaupt keinen Unterschied, auch mit den katholischen Kindern. Meine beste Freundin war Gertrud Brinker, die war immer sehr arbeitsam. Mit Mia, heute Frau Jansen, bin ich in jeder freien Minute mit dem Fahrrad gefahren, und auch mit Frau Manemann. Wir wohnten ja Tür an Tür wurden innerhalb derselben Stunde geboren.

Sels: Als nun 1933 der Nationalsozialismus kam, da waren Sie 23 Jahre alt. Was änderte sich?

Sachs: Wir haben uns sehr zurückgezogen. Ich bin immer am 6. Januar gerne ins Konzert gegangen, das bei Erdmann im Saal stattfand. 1934 ging ich nicht mehr hin. Viele haben gefragt, warum ich nicht kam, so auch Pastor Meier "Warum ist Bertha nicht hier, sie weiß doch, wie wir zu ihr stehen." - Aber ich hatte keine Lust mehr und wir haben an Festlichkeiten nicht mehr mitgemacht.

1935 bin ich mit meiner Freundin nach Cloppenburg gegangen, die da verheiratet war. Sie wurde plötzlich sehr krank. 1935 kam nämlich das Gesetz, daß Juden kein christliches Personal mehr einstellen durften. Dort gab es eine größere jüdische Gemeinde und die Juden verkehrten alle miteinander, das war immer eine ganz nette Gesellschaft. - Meine Eltern waren erst sehr dagegen, aber ich habe es gerne getan.

Mit dem Viehhandel wurde es auch immer schwieriger, mein Vater war ja, wie auch meine beiden Onkel, Viehhändler. Große Rücklagen hatten wir nicht. Mein Vater bekam damals seine Lebensversicherung ausbezahlt. Damals war Herr Recker an der Kreissparkasse. Er durfte uns eigentlich monatlich nur einen kleinen Betrag auszahlen, aber er hat es so gedeichselt, daß wir das Geld bekommen haben. Meine Mutter hatte Verwandte, die sehr vermögend waren. Die halfen uns aus, bis die Konten alle gesperrt wurden. Die wohlhabende Tante in Berlin hatte 1938, nach der Pogromnacht, ja auch dafür gesorgt, daß meine Eltern in ein jüdisches Heim nach Berlin kamen.

Sels: Ab wann mußten Sie den Judenstern tragen?

Sachs: Am dem 19. September 1941, das weis ich so genau, weil mein Bruder in Amerika an dem Tag Geburtstag hatte.

Kuhrts:: Sie erzählten, daß Ihre Brüder in ganz jungen Jahren weggegangen sind.

Sachs: Meinhard war 1916 geboren und Julius 1914. Im Januar 1937 emigrierten beide nach Amerika, wo wir Verwandte hatten.

Kuhrts:: Wie erging es Ihren Brüdern, als sie nicht mehr in die Gastwirtschaft oder in den Sportverein gehen durften?

Sachs: Ja, das haben sie ja sowieso nicht mehr mitgemacht. Ganz ganz schlimm war damals der Wachtmeister Schmidt.

Einmal war mein Bruder mit seinen Freunden bei Gerdes vor der Tür Da hat der Wachtmeister Schmidt meinen Bruder so runter gemacht, daß der ganz aufgeregt war, und er hatte doch gar nichts getan. - Da haben wir Schmidt einen Brief geschrieben, wenn er daß nicht zurücknehmen würde, würden wir uns beschweren. - Und er hat es nicht getan. Da bin ich nach Lingen gefahren zu einem Oberwachtmeister Behnke. Ich habe ihm alles erzählt, wir kannten uns sehr gut durch seine Tochter. Sicher, er konnte nicht viel machen, er war dann ja auch gefährdet. Aber als ich am nächsten Morgen die Tür aufschloß, sah ich Oberwachtmeister Behnke, daß er zu Schmidt fuhr. Von der Zeit an war es ein bißchen anders, hat er sich doch gemerkt, daß man nicht ängstlich war.

Einige Zeit später geschah folgende Geschichte. Ich benötigte einen Paß mit Fingerabdruck. Das ging auch über Wachtmeister Schmidt. Frau Luster fotografierte damals. Da ist Schmidt zu ihr gefahren und sagte, daß sie es schnell machen sollte, denn Fräulein Heilbronn wolle verreisen, sie brauche den Paß. Und auf plattdeutsch sagte Frau Luster "Dieser verrückte Kerl, einmal schimpft er und sagt, er könne das Judenblut trinken und ein andermal ist er wieder so".

Am Tage nach der Pogromnacht kam ich von meinen Verwandten aus Dortmund zurück. Es sei Frerener SA, so sagte man uns, die bei uns plünderte. Unser Haus sah aus wie ein Schlachtfeld. Fensterscheiben zerschlagen, Schubladen und Sachen aus den Schränken herausgerissen. Meine Eltern lagen im Bett, beide gelähmt. Ich war mit den Nerven am Ende, ich konnte nicht mehr. Angeblich suchten sie nach Waffen, so schrien sie rum. Das Geld, das sie fanden, nahmen sie mit. Ein SA-Mann aus Lengerich sei dabei gewesen, sagte man uns, aber der war krank davon. Seine Frau habe geweint, als er ihr erzählte was geschehen war.

Als mein Bruder Emil morgens die Post abholen wollte, kam er nicht zurück. Der Polizist aus Langen hatte ihn abgefangen. Emil kam ins KZ nach Buchenwald, Leonard nach Sachsenhausen. Paul wurde auf dem Heuboden versteckt.

Kurz vor Weihnachten kamen meine Brüder frei. Als Emil im Postauto nach Hause kam, haben ihn die Lengericher nicht erkannt. Haare abgeschnitten und völlig abgemagert, wie Leonard auch. - Paul aber auf dem Heuboden hatte einen runden Kopf bekommen und lange Haare. Er wurde ja verpflegt und hatte keine Bewegung - sechs Wochen lang.

Kuhrts:: Frau Sachs, können Sie mal sagen, was die beiden Brüder im KZ erlebt haben?

Sachs: Mein jüngster Bruder Emil, gezittert hat er ja, sagte: "Wir dürfen nichts erzählen, und wurde gesagt, die Wände haben Ohren, wehe wenn wir reden, dann werden wir wiedergeholt". Mein Bruder Paul fuhr am Freitagnachmittag einkaufen. Da begegnete er dem Wachtmeister Schmidt, der ihn befragte, wo er denn gewesen sei. Paul entgegnete ihm, daß er nichts sage, es sei ihnen verboten worden - und er fuhr weiter mit seinem Fahrrad. Das vergesse ich nie. Schmidt kam wutschnaubend zu uns ins Haus und schimpfte, daß mein Bruder saufrech zu ihm gewesen sei. Er könne ihn ja auch wieder dahin bringen, wo er gewesen sei. - Ich dachte bei mir, weit kann er ihn ja nicht bringen, nur auf den Heuboden und dann markierte ich und weinte. "Wollen Sie uns noch mehr antun, haben wir nicht genug mitgemacht ?" Da sagte Schmidt: "Regen Sie sich doch nicht auf, das würde ich doch nicht machen".

Als die SA am 9. November 1938 unser Geld mitgenommen hatte, verblieben uns monatlich nur noch 100 Mark. Meine Eltern mußten verpflegt werden, Stromrechnung, Kohlen kaufen usw. Da war ich es leid und habe den Mut aufgebracht zur Gestapo (geheime Staatspolizei) nach Osnabrück zu fahren. Ich wundere mich noch heute, daß ich damals den Mut aufbrachte. Ich klingelte, betrat einen Raum, die Tür hinter mir wurde abgeschlossen, eine neue Tür wurde aufgeschlossen. Da saß jemand am Schreibtisch und ich erzählte, daß uns das Geld beschlagnahmt sei, ich hätte kranke Eltern und wir hätten für den Lebensunterhalt kein Geld mehr. Da sagte der Mann nur einen Satz: "Sie können gehen". Und vom Landratsamt in Lingen bekam ich die Nachricht, ich könne das Geld in Empfang nehmen.

Sels: Frau Sachs, wie war das mit der Lebensmittel- und Kleiderkarte? Erhielten Sie auch diese Karten?

Sachs: Eine Kleiderkarte haben wir nicht bekommen, aber wir kamen auch ohne diese zurecht. Lengericher brachten uns Abschnitte von der Karte, so daß wir Strümpfe und anderes kaufen konnten. Herr Rieke sagte mir, wenn wir etwas benötigten, sollten wir es sagen. Oder auch Herr Berlage sagte: "Bertha, wenn du etwas brauchst, sag es nur." Wir wohnten ja später dort, wo jetzt die Schlachterei Schröder (Pizzeria) ist.

Mein jüngster Bruder Emil machte in Paderborn eine Umschulung für Landwirtschaft in Israel. Leonard und Paul arbeiteten im Tiefbau bei Werlte.

Im März 1940 habe ich den elterlichen Haushalt aufgelöst. Die Schwester meiner holte die Eltern nach Berlin, wo sie in einem jüdischen Altersheim unterkamen. - Ich selber ging nach Wolbeck, wo ein Bruder meines Vaters wohnte. Dort saß ich auf gepackten Koffern, weil ich täglich darauf wartete ausreisen zu können. Ich hatte meine Ausreisepapiere beisammen und wartete nur auf die Wartenummer, daß ich mein Visum bekam.

Kuhrts:: Wie sind Ihre Brüder Julius und Meinhard nach New York gekommen?

Sachs: Meine Mutter hatte zwei Brüder und zwei Schwestern drüben, die verbürgten sich für den Unterhalt.

In Wolbeck lernte ich nun meinen Mann kennen, sonst wäre ich schon weg gewesen nach Amerika. Im Jahre 1941 haben wir geheiratet nach jüdischem Ritual im Hause meines Schwiegervaters in Werter. Eigentlich sollte uns unser jüdischer Religionslehrer aus Quakenbrück trauen. Er war nach Berlin gegangen, besuchte dort auch oft meine Eltern und wollte uns im Altenheim trauen. Aber das verbot die Gestapo. Unser Religionslehrer kam jede Woche zu uns ins Haus, wo wir Kinder und auch Erika Manne aus Freren unterrichtet wurden. Mein Mann arbeitete in Werter in einer Fahrradfabrik und ich bekam Nachricht, daß ich auch arbeiten mußte. Mein Mann hat es fertig gebracht, daß ich nur bis Mittag zu arbeiten brauche.

Sels: Sie trugen beide den Judenstern. Wurden Sie belästigt?

Sachs: Wo gingen wir noch groß hin. Wir wohnten in einem Haus wo nur Juden wohnten. Wir haben es uns abends, wenn Feierabend war, gemütlich gemacht. Wie der Judenstern kam, gab es für die Juden sowieso abends Ausgangssperre.

Im November 1941 erhielten wir Nachricht, daß wir uns bereit halten sollten, daß wir weg kämen. Da wurde manches vorbereitet. Der Chef der Firma schrieb nach Berlin, daß sein Betrieb ein kriegswichtiger Betrieb und Sachs erste Kraft an der Drehbank sei. Aber wir dachten, wenn wir heute nicht dran sind, sind wir es bei dem nächsten Transport. Bei uns stand als Ziel des Transports: Riga. Am 13. Dezember 1941 ging der Transport von Bielefeld ab. Drei Tage vorher waren wir von der Gestapo abgeholt und im Kyffhäuser (Lokal) untergebracht worden. Jeder durfte 50 kg Gepäck mitnehmen. Der Transport kam schon von Münster - Osnabrück, wir waren die letzte Station und Juden aus dem ganzen Bezirk Bielefeld gingen auf den Transport.

Es war mein Geburtstag und ich dachte bei mir, vielleicht es ja mein Glückstag. Wir saßen in einem ungeheizten Personenzug und waren drei Tage unterwegs. Wir nahmen an, daß wir zum Arbeitseinsatz kämen. Die Ostjuden hatte man schon früher nach Polen zurückgeholt. Und es war ja so, es gab eine Grenze zwischen Ostjuden und Westjuden. Aber später war kein Unterschied mehr, da waren alle Juden.

Hinter Berlin fing es an kalt zu werden. Als wir nach 3 Tagen abends in Chirotawa ankamen, mußten wir bis zum Morgen noch im kalten Zug verbleiben. Am nächsten Morgen wurden wir ausgeladen. Da ging das Theater los. Da stand die 55 mit großen Schäferhunden. "Ruck - zuck, raus, raus !!!". Kilometerweit mußten wir durch Eis und Schnee stapfen.

Da wußten wir schon was geschah, da wurden wir quasi auseinandergetrieben. Diejenigen, die gerne zusammen bleiben wollten, der eine kam dahin, der andere dorthin.

Es waren gerade zuvor lettische jüdische Frauen mit ihren Kindern umgebracht worden. In diese Wohnungen kamen wir rein. Da stand das Essen auf dem Tisch, die Terrine mit der Suppe. Wo Babys waren, da stand das Töpfchen noch. Es war das Ghetto, das Judenviertel von Riga, eingezäunt, da kamen wir hin.

Nach drei Tagen wurde ich von meinem Mann getrennt. Männer kamen nach Salaspils. Das war kein Lager, .da haben sie quasi draußen gelegen, mußten dann selbst ihre Barakken und alles fertigmachen. Mein ältester Bruder Leonard war schon nach drei Wochen tot. ,Wir wurden zur Arbeit eingeteilt, die Straßen von Schnee und Eis zu befreien. Wenn wir morgens antreten mußten bekamen wir eine Scheibe Brot. Wir konnten sie aber gar nicht essen, weil sie ganz steif gefroren war. Manchmal haben wir von Letten, die erbarmen hatten, ein Stück Brot bekommen. Oder wenn man das Glück hatte, für einen Soldaten arbeiten zu müssen. - Ich war bei einer Straßenbaufirma, Stralo hieß die damals. Da mußten wir Kartoffeln schälen. Das war ein schönes Kommando, auch wenn man im Keller saß, aber das war egal. - Da war ein Soldat, der kam aus Bielefeld, Bäckermeister, der steckte einem mal ein Stück Brot zu. Und ein Soldat aus Emden der fragte mich, ob ich nicht mal schnell für ihn ein Paar Strümpfe stopfen und waschen könne. "Und wenn du sie zurückbringst, mach die Schublade auf, da liegt was drin." Da lag ein Stück Brot und eine Scheibe Wurst.

Solches Kommando, das ging immer noch. Und dann passierte das: Eine Kölnerin, die eine jüdische Mutter hatte, durfte bei einem Wachtmeister putzen. Der hatte zuvor eine Lettin als Putzhilfe. Die zeigte den Wachtmeister an, er habe ein Verhältnis mit der Kölnerin. Diese wurde verhaftet und gab mich als Zeugin an, daß sie es nicht habe. Auch ich wurde verhaftet. Mit 41 Frauen haben wir in einem kleinem Raum volle sieben Wochen auf der Erde gelegen. Seelisch bin ich fast zugrunde gegangen. Ich habe immer gesagt, wenn ich nur eine Kartoffel gestohlen hätte, dann wüßte ich, wofür ich sitze. Ich bin noch nicht einmal verhört worden - und die sperren uns sieben Wochen ein. Die Kölnerin wurde erschossen und der Wachtmeister kam an die Front.

Keiner im Ghetto wußte, wo wir geblieben waren. Von meinem Mann wußte ich überhaupt; nichts. Nach sieben Wochen kamen wir frei.



Im September 1943 kamen wir weg, das Ghetto wurde im November aufgelöst. Wir kamen in das Konzentrationslager Kaiserwald. Das war ein gewaltiger Unterschied. Im Ghetto war es kein Honigschlecken, bestimmt nicht. Und immer mußte man Angst haben, denn auch nachts kamen sie ins Haus. Da wurden oft Leute rausgeholt und erschossen. Gleich am Anfang, als wir da waren, ein bekannter aus Herford. Aber dies war ein richtiges KZ, eingezäunt und mit Wachtürmen. Alles getrennt, Frauen und Männer. Und dann diese Schwerverbrecher als Vorgesetzte (Kapos). Sie können sich denken, was da vorgekommen ist. Da haben wir manchmal geglaubt, die schlagen unsere Männer tot. Da haben sie nachts Barrikaden aufgebaut an Fenstern und Türen, daß man nicht hinaus konnte und dann mit dicken Knüppeln dazwischen.

Mein Mann hatte ja auch eine Verletzung, er hat ja auch mit dem Knüppel eins auf den Kopf bekommen. Das hat entsetzlich geblutet, und dann hat er ein Pflaster drauf bekommen. Weil es nicht richtig ausblutete, hat er einen Tumor bekommen, der jetzt ruht.

Im KZ wurden wir zur Arbeit rausgeführt, - und was für eine schwere Arbeit. Wir mußten angeblich Schützengräben schaufeln. Von wegen Schützengräben, das waren Massengräber. Mußten Stunden erst mal laufen, bis wir zum der Stelle kamen. Dann angetrieben, nichts im Magen und durch den Schlamm getrieben. Wer im Schlamm stecken blieb, der kriegte eins mit dem Gewehrkolben. Und wenn er liegen blieb, dann fuhr so´n Wagen hinterher. Da wurden die draufgeworfen, als wenn ein Sack Hafer raufgeworfen wurde. Oder sie blieben so am Straßenrand liegen. Aber das war furchtbar.

Kuhrts:: Was glauben Sie, wie Sie das durchgehalten haben?

Sachs: Mein Glaube, aber auch wenn ich abends mein Haupt niederlegte. Wir lagen ja wie die Heringe in einer großen Baracke. Keine Decke, gar nichts. Aber von den vielen Menschen war es ja sowieso warm. Dann habe ich nur immer phantasiert, nicht laut gesprochen, aber so für mich selbst. - Ach, wenn du erst mal wieder befreit wärst, wenn ich meinen Mann wiederfinde und wir haben eine Familie, Kinder, oder wenn ich mal wieder so einen Sonnabend verleben könnte, so wie zu Hause. Meine Eltern waren noch religiös und der Sonnabend wurde wirklich geheiligt. Es war wirklich ein Ruhetag.

Ich hatte genausowenig zu essen wie alle anderen. Da wurde ich mal von einer polnischen jüdischen Ärztin gerufen, die in der gleichen Baracke lag und da sagte die: "Sagen Sie mal, wie kommt das, wir sehen doch, daß Sie, wenn Sie abend von der Arbeit kommen, genau so einen Schlag Wassersuppe bekommen, wie alle anderen". Da hab ich gesagt: "Ich glaube nur immer das Beste und träume auch davon. Und wenn ich abends mein Haupt niederlege, dann sage ich mit selbst, ach wie schön ist es, wenn du wieder befreit bist. Ich denke nie das Schlechte", hab ich gesagt. Da hat sie gesagt: "Sie glückliche".

Das hat mein Leben gerettet, das hat mir später der Oberarzt in Lauenburg (Hinterpommern) im Krankenhaus gesagt. Ich habe ja 16 Wochen im Krankenhaus gelegen. Und als ich mal wieder aufstehen konnte und im Krankenhausgarten spazieren ging, da wurde ich von ihm so umarmt und gedrückt. Da sagte er: "Ich freue mich so, daß Sie das überstanden haben. Aber das haben Sie sich selbst zu verdanken, ihre starke Energie und Ihre Lebenskraft haben ihr Leben gerettet." Ich wurde doch eingeliefert mit 41 Grad Fieber, habe 12 Tage ohne Bewußtsein gelegen. Als ich meine Augen aufmachte, habe ich geglaubt, wie komisch, liegst du hier nur zwischen Männern? - wo wir doch alle geschoren waren, soweit konnte ich gar nicht denken.



Im KZ Kaiserwald wußte ich nichts von meinem Mann. Wir wurden damals in Stutthof sofort getrennt - Der Transport ging von Liebenau aus, zu Fuß von Dundagen nach Liebenau tagelang unterwegs. Nachts auf einer Wiese geschlafen. Und dann in Liebenau wurden wir verladen, da kamen wir zum Stutthof hin. Wir wurden schon in Liebenau in Liebenau getrennt, Männer und Frauen. Dann habe ich meinen Mann auch nicht wiedergesehen. Er ist von Stutthof nach Buchenwald gekommen. Ich war noch ein paar Wochen im Lager Stutthof dann kamen wir in kleinere Läger, wo wir in Finnenzelten untergebracht wurden.

Dann waren wir im Kreis Thorn in einem großen Gutshof Das war schrecklich, das war der Höhepunkt. Da kamen wir nachts an. 250 Personen in einem Waggon. Da wurden wir hin und herrangiert. Wir glaubten alle, wir wären erstickt. Wir haben geschrien, es war furchtbar. Da kamen wir nachts an, wurden durch einen Sumpf getrieben. In einem Viehstall wo Pferde und Kühe waren, mußten wir die Leiter rauf klettern. Die' meisten von uns hatten schon Typhus. Wer austreten mußte, durfte ja nicht. Dann sickerte alles ins Stroh. Das sah bald aus, wie wenn man durch einen Kuhstall geht, der wochenlang nicht ausgemistet wurde. Morgens Wurden wir um fünf Uhr geweckt. Dann kamen die Ukrainer mit dicken Knüppeln und holten uns, wie so eine Viehherde Nun stellen Sie sich vor, auf einer Leiter mußte man runter. Und unten standen wieder auf beiden Seiten zwei Ukrainer und man kriegte wieder so einen Schlag mit. Diese Panik. Und wieviel Tote man jeden Tag hatte, das kann ich überhaupt nicht sagen. - Wer noch nicht tot war, der kam in eine Scheune. Da blieben sie liegen, bekamen keine Verpflegung mehr, gar nichts. Und wenn die dann tot waren, mußten wir rann. Manche bewegten sich noch ein bißchen. - Wir mußten die Sachen ausziehen und durch das Wasser eines Baches ziehen.

Das war eben das Kommando, wo wir täglich zwei Stunden zur Arbeit geführt wurden, um die Massengräber auszuschaufeln. Wer zurück im Schlamm stecken blieb, der kam nicht wieder raus. Das war eine Panik, das kann ich Ihnen sagen. Und Abends Essen holen wollte auch schon keiner mehr, weil alle Angst hatten. So schlimm waren die Ukrainer, so schlimm.

Dann kamen wir weg nach Grodnal. Da waren wir volle sechs Wochen auf der Landstraße. Von Ende Januar bis Anfang März 1945. Nachts zwischen den Tieren im Stall gelegen, nichts zu essen. Die Leute haben sich ernährt von toten Pferden, die auf der Straße lagen. Oder, wo noch Rüben auf einem Feld waren. - Wenn andere Frauen vom Einkauf kamen, wurden sie von unseren Frauen überfallen und alles Eßbare weggenommen. Wenn unterwegs eine Hundehütte war, da sind sie hingegangen, um noch einen Knochen zu finde und auf dem rumzukauen, tagelang.

Ein einziges Mal, im Februar, die Sonne schien so schön, da wurde dann Station gemach und wir sahen von weitem eine Gulaschkanone stehen. Da hieß es, wenn wir Disziplin einhielten, dann würden wir gleich etwas zu essen bekommen. Jeder würde einen halbe Liter Suppe erhalten. Sie können sich denken, der Mensch war kein Mensch mehr, das waren Tiere. Und wir, die wir noch ein bißchen vernünftig waren, haben gerufen: "Kinder, bleibt ruhig, wenn wir uns daneben benehmen, dann kriegen wir alle nichts". Dann kam diese Gulaschkanone und wir kriegten so einen Erbsenbrei aus Würfeln gemacht. Also, wir haben geweint vor Freude. So nach Wochen einmal etwas Warmes, sonst nichts zu essen. Unterwegs hatte ich von einem Soldaten ein ganzes Brot bekommen. Das wurde mir geklaut und auch meine Holzschuhe. Unterwegs traf ich auch meine Cousine Ruth, die gab mir ein paar Fußlappen. Wir waren nicht in einem Block und kamen wieder auseinander. Meine Zähne wackelten alle und wurden mit Jod eingerieben.

Da hieß es mit einem Male: "Der Iwan kommt ! Schnell Appell! Antreten !". Da sind wir nachts noch 22 km gelaufen bis nach Lauenburg hin. Da war ein großes Rittergut, ein herrliches Gebäude, ein Schloß. Auf dem Hof standen viele mit ihrem Traktor, Deutsche, die auch geflüchtet waren. Wir wurden in die Scheune gesperrt mit Polen und Russen. Wir waren ja ganz kaputt von dem Weg und ohne Essen. Ich war auch sofort eingeschlafen. Auf einmal ein Krachen und ein Rufen: "Befreit - befreit - befreit !!!"

Ich wußte im Moment gar nicht was los war. Dann die Russen, die da waren und die Polen donnerten alle mit Gewalt gegen das Scheunentor. Und dann waren wir frei. Und wir bekamen auch gleich etwas zu essen. Wo eine Kuh war, wurde gemolken. Man bekam einen Schluck Milch und etwas Komißbrot. Der Ort, wo wir waren, hieß Schienow. Wir haben unten im Schloß geschlafen, in einem wunderbaren ganz eleganten Schlafzimmer. Aber das war uns ganz egal, Hauptsache, wir hatten ein Dach über dem Kopf.

Nach zwei Tagen hieß es, wir müssen den Ort verlassen, die Deutschen kommen wieder, die schießen zurück, wir sind gefährdet. Da sind wir ein paar Kilometer gelaufen. In einem kleinen Kotten haben wir uns ein paar Tage aufgehalten. Dann wurden wir mit einem Lastwagen nach Lauenburg gebracht und von den Russen zwei Tage einquartiert. Ich hatte so hohes Fieber und ging mit einer Litauerin zu einem Arzt. Ich kam gleich ins Krankenhaus, wurde gebadet und kam in ein Bett. Ich muß sagen, da war ich nicht mehr da. Zwölf Tage, wo ich gar nichts geahnt habe, wurde gefüttert usw. und ich muß sagen, wenn die Russen heute auch nicht unsere Freunde sind, aber sie waren meine Lebensretter.



Ich wurde phantastisch versorgt, ganz phantastisch. Morgens um 5 Uhr kam schon eine Schwester und steckte uns eine Vitamintablette in den Mund. Um 8 Uhr kriegten wir unseren Kaffee und ein paar Scheiben Brot, wenn es auch nur Trockenbrot war, das spielte keine Rolle. Wir durften auch nur soviel nehmen, wie wir essen konnten, eben weil die Typhusgefahr so groß war. Einmal in der Woche wurden wir gebadet, kriegten frische Schlafanzüge. - Ich hatte Wasser in den Beinen und wurde von einem deutschen Oberarzt behandelt. Die deutsche Rotekreuzschwester hatte auch ihre Mutter bei sich. Wegen Typhus wurden wir von einer russischen Ärztin im Majorsrang behandelt. Es gab auch russische Schwestern, das Pflegepersonal waren aber zumeist Deutsche. Wir waren gut untergebracht, hatten unsere Verpflegung. Der Krieg aber ging weiter, das war nun März 1945. Da hab ich gedacht, wenn ich nun entlassen werde, wo geh ich dann hin. Die Ärzte aber sagten, ich solle mir keine Gedanken machen.

Ich muß sagen, ich war immer sehr bescheiden und zurückhaltend. Viele waren da, die verärgert waren. Die hatten Rachegedanken, die habe ich nie gehabt, überhaupt nicht. Und dadurch waren die Schwestern sehr nett zu mir. Das haben verschiedene Frauen nicht verkraften können. Als eine Schwester Geburtstag hatte, bekam sie einen Strauß Maiglöckchen geschenkt. Als sie mir die Hälfte gab, sagte eine Frau. "Guck die da, die da."

Die Mutter von der Rotkreuzschwester hatte im Anfang, als ich ohne Bewußtsein war, oft bei mir am Bett gesessen. Wir kriegten von den Russen ab und zu Wodka zu Trinken. Damit rieb sie mir meinen Rücken und meine Beine ein und sagte: " Das ist gut, das ist gut."



Am 8. Mai kam der russische Kommandant ins Krankenhaus und erzählte in gebrochenem Deutsch, daß der Krieg zu Ende und die russische Armee in Berlin sei.

Am 16. Juni begann unsere Heimreise zu viert mit einer Frau aus Köln, aus Leibzig und aus Coburg mit der Eisenbahn. Ich war 16 Wochen im Krankenhaus gewesen. Die erste Nacht verbrachten wir bei der Heimfahrt im Bahnhofstunnel von Bromberg, die zweite Nacht im Wartesaal von Schneidemühl. Als wir in Berlin eintrafen, wurden wir in einer Herberge untergebracht, wo auch Flüchtlinge waren. Meine Tante in Berlin war 1941 nach Amerika emigriert, gerade noch weggekommen.

In Berlin trafen wir ein paar Damen, die auch im Ghetto gewesen waren, die jetzt im ehemaligen jüdischen Altersheim wohnten. Wir gingen mit ihnen. Dort kam eine Bielefelderin abends zu mir und sagte, daß sie in Theresienstadt gewesen sei, wo auch ein Herr Sachs gewesen sei. Es gäbe eine Liste von allen, die in Theresienstadt befreit worden waren. Ich nicht auf der Liste stünde. Ich mußte damit rechnen, daß mein Mann leider nicht mehr lebe. erkundigte mich und bekam die Auskunft, daß der Name meines Mannes, Arthur Sachs, Die Dame aus dem KZ Theresienstadt sagte: "Hören Sie Frau Sachs, so wie ich Ihren Mann kenne, ist der, bevor die Kartei erstellt wurde, schon längst auf dem Weg nach Hause. Wir waren sieben Wochen in Berlin, wo ich auch ärztlich behandelt wurde. Dann ging es weiter nach Westen. Zweimal sind wir an der Grenze (Elbe) zurückgeschickt worden. Es war immer ein Transport von 60 Personen. Das erste mal ließen uns die Russen nicht durch und zum zweiten mal waren es die Engländer, die uns nicht reinließen. Beim dritten mal kamen wir durch und waren abends in Braunschweig, wo wir in einem Bunker übernachteten. Morgens um 5 Uhr ging es weiter nach Hannover und von Lehrte nach Bielefeld bin ich auf einem Kohlenwagen hinter der Lok mitgenommen worden. Da hab ich noch ein Butterbrot und einen Apfel geschenkt bekommen.

In Bielefeld erfuhr ich endlich, daß mein Mann noch lebte. Aber wo sollte ich ihn finden ? Ich wußte überhaupt nicht, wo ich hinsollte.

Da sagte ein Polizist zu mir: "Fahren Sie doch zum Rathaus, da sind doch alle registriert". - Aber am Nachmittag waren alle Türen zu. Ich setzte mich auf eine Bank und weinte. Wo sollte ich jetzt nur suchen?

Ein Beamter, der vorbeikam, bemerkte schon an meiner Garderobe, wo ich herkam. Er wollte wissen, wo ich hin wollte. Aber ich konnte nicht mal den Namen meines Mannes aussprechen. Diese Angst, ich würde ihn doch nicht finden. Der Mann nahm mich mit und telefonierte mit dem Einwohnermeldeamt immer und immer wieder. Ich habe wohl eine Stunde gewartet, dann lächelte der Mann und sagte: "Ihr Mann ist zurück !".



Also, wie schnell ich da rausgekommen bin, nur über Trümmer, wie ich da überhaupt hingekommen bin, das kann ich überhaupt nicht sagen. Mein Mann hatte die Adresse von unser früheren Wohnung (Judenhaus) angegeben. Als ich ankam, war er nicht mehr da. Als ich unten in unserer Wohnung klingelte, öffnete eine Frau. Als sie mich in meiner Aufmachung sah, schlug sie die Tür gleich wieder zu (es war die Frau des früheren NS-Ortsgruppenleiters). Ich ging eine Treppe höher. Eine Dame öffnete. Ich fragte: "Wohnt hier Herr Sachs ?" – "Ach, sind Sie Frau Sachs? Dann kommen Sie doch herein." "Mutter" rief sie, "komm doch schnell mal, Frau Sachs ist hier. Du kennst doch Herrn Sachs, der hier gewohnt hat". Dann wurde der Tisch gedeckt, frische Brötchen mit Butter und Marmelade und alles mögliche. Die Wirtin sagte: "Ich schicke meine Tochter mal eben ins christliche Hospiz, da sind alle die vom Lager untergekommen". Sie kam mit einer Dame zurück, die "rein" war. Die nahm mich mit ins christliche Hospiz. Da waren Bekannte von meinem Mann, die mit ihm aus Riga gekommen waren. Und mein Mann hatte einen Abend vorher von einer Bielefelderin, die vorher gekommen war, erfahren, daß ich auf dem Wege nach hier wäre.


Nun erfuhr ich, daß mein Mann in der Melchthonstraße hier in Bielefeld wohnte. Jemand eilte mit mir dorthin. Das weitere können Sie sich denken.


Wir waren eines von drei Ehepaaren, die Riga und alles Weitere überlebt hatten.


Quelle:
Lengericher Geschichte(n), Nr. 4, Heimatverein für das alte Kirchspiel Lengerich e.V., Lengerich 1998, S. 10-18

Quelle: www.heimatarchiv.de zurück